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Sonnenuntergang

  • 20. Okt.
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 26. Okt.

Jedes Ende ist ein neuer Anfang.


Sonnenuntergang im Gebirge
Sonnenuntergang im Gebirge

Fleiß 


Ein tüchtiger Käfer lebte mit seiner Familie in einem kleinen Bergdorf. Er verbrachte den Großteil seines Tages auf der Arbeit, welche er stets gewissenhaft ausführte. Er half bei einem örtlichen Betrieb dabei, neue Häuser zu bauen, den Bestand zu sanieren und Ruinen abzureißen. Er war recht kräftig gebaut und daher zuständig für die Logistik der Rohmaterialien, was so viel hieß wie schweres Material von A nach B zu tragen. Folglich hat er sehr oft schwere Lasten zu buckeln und seine ganze körperliche Kraft nutzen müssen, um die benötigten Rohstoffe zur Baustelle transportieren zu können. Die am Einsatzort fleißigen Bauarbeiter waren von ihm abhängig und auf seine Schnelligkeit angewiesen – schließlich stand bereits der nächste Auftrag auf der Warteliste.  


Er war der Käfer mit den wenigsten Fehltagen. Trotz regelmäßiger Rückenschmerzen am Abend und eher schlechterer Laune beim Heimkommen hat er diese Arbeit gerne gemacht. Er fühlte sich nützlich, konnte für seine Familie sorgen und sah es als seinen Beitrag für die Gesellschaft, am nächsten Tag wieder vollen Einsatz zeigen zu können.  

Seine Frau hatte sich schon oft Sorgen um ihren Ehemann gemacht. Er solle doch mal etwas kürzertreten, um sich etwas erholen zu können. Schließlich sei er erst letztes Jahr für einen Monat aufgrund von Herzrhythmusstörungen im Krankenhaus gewesen. Die chronischen Rückenschmerzen möchte sie inzwischen schon gar nicht mehr ansprechen. Sie hätte Angst davor, dass etwas passieren könnte, von dem er sich nicht mehr erholt, wodurch sie und die Kinder alleine dastehen würden – ihr Jüngstes war grad mal 4 Jahre alt.  


Aber der Käfer machte weiter, stets getrieben von seinem tief verankerten Glaubenssatz, es sei so richtig und allen am meisten geholfen, wenn er weiterhin die Logistik auf den Baustellen stemmt und regelmäßig den Gehaltsscheck nach Hause bringen kann. So könne er Essen auf den Tisch bringen und dafür sorgen, dass das Haus die nötigen Reparaturen erhält. Nach diesem Prinzip handelte der arbeitsame Käfer nun schon viele Jahre, inzwischen Jahrzehnte.  


Ausgleich 


Nach einem längeren Gespräch mit seiner Frau bezüglich seiner launische Art hatte er im letzten Jahr einen abendlichen Spaziergang in seinen Alltag integriert, der ihn auf einen nahegelegenen Berg hinaufführte. Er lief stets den holprigen Pfad zur Bergkuppe, um dort den Sonnenuntergang sehen zu können. Trotz all der Überstunden und schwierigen Zeitsituation in den kalten Wintermonaten hat er es dennoch in den meisten Fällen auch geschafft. Der Käfer war dann immer überglücklich, oben angekommen zu sein, und hat es im Laufe der Zeit als einen Sinn des Tages gesehen, der müden Sonne beim Verschwinden hinter dem Horizont zuzuschauen.  


Doch inzwischen kannte er jeden Stein und jeden Baum, der auf seinem Weg war. Die kleinsten Veränderungen fielen ihm direkt auf und lieferten gleichzeitig die einzige Abwechslung in seiner Entspannungsroutine. Es war zu einer starken Gewohnheit, fast schon einem neuen Glaubenssatz, geworden. Aufgrund der täglichen Dauerbeschallung durch den andauernden Kontakt mit anderen Dorfbewohnern in Kombination mit der ohnehin harten Arbeit führte dazu, dass er eingesehen hatte, diese Zeit für sich alleine bewusst zu nutzen, um neue Kraft sammeln zu können. Auch wenn ihm der Anstieg zunächst Energie raubte, war der Anblick all die Mühe wert und stellte seine Quelle der Erholung dar.  


Eines Tages war es wieder so weit. Er machte etwas verspätet Feierabend, weshalb er sich sehr beeilte. Es war bereits die Zeit der Dämmerung, die Umgebung dunkelte sich ab und ließ die grellen Farben langsam verblassen. Die Sonne war hinter dem vor ihm liegenden Hügel nicht mehr zu sehen, sodass er sich kraftzehrend spurte. Auf dem Gipfel angekommen war sie nur noch halbkreisförmig über dem Horizont zu erblicken. Dennoch überwältigte ihn wieder diese rötliche Aura, dieses sanft leuchtende Scheinen am Himmel. Wie gefesselt von der wunderbaren Schönheit blieb er einige Minuten regungslos stehen und genoss die Aussicht. 


Entführung 


Plötzlich riss ihn ein markerschütterndes Geräusch aus seinem tranceartigen Zustand. Er hörte genauer hin und war sich schnell gewiss, dass es diese berüchtigten Töne des Verderbens waren, die in vielen Familien des Dorfes bereits Trauer und Abschied hervorgerufen hatten. Ihm schauderte es, der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter und Todesangst nahm jeden Teil seines Wesens ein. 


Noch ehe er sich umdrehen konnte, um den Angreifer auch visuell erfassen zu können, fassten ihn die scharfen Krallen und ein ruckartiger Hieb teleportierte ihn augenblicklich in die Höhe. Es war ein wilder Falke, ein Baumfalke, dessen Art sich seit Jahrzehnten in dem bergigen, weiten und strukturreichen Land niedergelassen hatte. Der Käfer hatte keine Chance, auszuweichen, und war nun handlungsunfähig seinem Schicksal unterworfen. In dem festen Griff gefangen, war er zwar noch lebendig, aber wusste innerlich bereits, was auf ihn zukommen würde. Er hatte furchtbare Angst.  

Und der Falke sonnte sich unbeeindruckt im orangefarbenen Schein und flog scheinbar anstrengungsfrei, fast schon gelangweilt, weiter und weiter. Während die Sonne mit steigender Höhe wie aufzugehen schien, konnte der Käfer schon sein jähes Ende herbeisehen. Er dachte an seine Familie, während unzählige Momente seines Lebens vor dem inneren Auge vorbeizogen. Mit einem wehmütigen Blick ließ er sich vom sanft strahlenden Licht erfassen – er hatte abgeschlossen.  


Auf einmal der aggressive Ruf eines ausgewachsenen Habichts. Nun war nicht der Käfer das Ziel, sondern sein schwebender Entführer. Schlagartig wurde es turbulent, die Flugkünste ähnelten den chaotisch wirkenden Bewegungen von Floatern. Ruckartige Bewegungen und hektische Flügelschläge folgten und der Käfer wusste gar nicht, wie ihm geschah. Die Augen verschlossen ließ er das schaurige Schauspiel der Natur über sich ergehen. Sollte der Falke im Eifer des Gefechts seine Krallen öffnen, wäre der freie Fall in den Tod vorprogrammiert. Andernfalls würde es weiter zu seinem Nest gehen, wo die Jungvögel schon sehnsüchtig auf ihr Abendmahl warten würden. Umklammert von diesen dunklen Aussichten spürte der Gefangene, wie sich eine Kralle zu öffnen begann. 


Gefangenschaft 


Der Habicht hat den Flügel des Baumfalken fassen können und zwang ihn dadurch, in einem riskanten Sturzflug zu flüchten. Völlig mit dem eigenen Überleben beschäftigt, ließ er schließlich den verwirrten Käfer fallen, welcher sich nun im freien Fall Richtung Erdboden befand. Durch das wilde Wirbeln und Schleudern hatte er gar nicht bemerkt, dass er sich direkt über einem anderen Berg befand. Eine allseitig steile Bergkante stellte den unsanften Landepunkt dar. Nach dem Aufschlag lag er nun mitgenommen auf dem Rücken und sah über sich den Kampf, dessen Beteiligter er eben noch war. Er sah, wie der Falke sich mit aller Kraft zu verteidigen versuchte, aber immer mehr die Kontrolle verlor und von dem mächtigen Angreifer förmlich zerfetzt wurde. Auf der einen Seite war er erleichtert, dem Tod entkommen zu sein, auf der anderen Seite entwickelte er unerklärliches Mitleid – Stockholm-Syndrom. Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen verschwanden die beiden Kontrahenten hinter einem etwas entfernten Gipfel. Der Käfer war alleine, er war lebendig und konnte es noch gar nicht wirklich glauben. 


Mit einem beherzten Schwung schaffte er es auf seine Beine und realisierte sofort, dass es keinen sichtbaren Weg bergabwärts gab. Der Wind wehte stark, während ihn die Dunkelheit nicht mehr nur metaphorisch umgab. Eine aussichtslose Situation wurde von einer anderen abgelöst; der bereits in der Luft akzeptierte und zunächst verhinderte Abschluss schien weiter hinausgezögert zu werden.  


Und so saß er da, die Tage zogen an ihm vorbei und nichts änderte sich. Gedankenchaos, gefolgt von friedvollen Momenten der Glückseligkeit, standen auf der Tagesordnung. Der Durst wurde unerträglich, sein Mund glich dem kargen Gipfel, auf welchem er sich befand. Hunger gesellte sich dazu und sämtliche physische Reserven wurden verbraucht. Sein Körper schaltete immer weiter in den Ruhemodus, während sich der geplagte Käfer erneut seinem Tod gegenübersah. Es war ein unglaublich schmerzhaftes Gefühl und er schickte mit den wirbelnden Böen immer wieder Gebete für seine Familie in die Weite. 


Umbruch 


Die Sonne stand im Zenit und schaffte es kurzzeitig, die dichte Wolkendecke zu durchbrechen.  Auf einmal ein vibrierender Donner in der Ferne, so mächtig und umfassend, dass der Käfer es erschrocken schaffte, sich mit letzter Kraft in dessen Richtung zu drehen. Der Himmel war dunkelgrau und die Blitze schossen in die Ebene. Emotionslos und mit vernebelten Augen erkannte er die unausweichliche Folge: Sein Ende stand bevor.  

Die ersten Tropfen trafen seinen regungslosen Körper. Schnell wurde daraus ein starker Schauer und kleine Rinnsale strömten den Hang hinunter. Die Macht und Intensität des Unwetters ließen den halbtoten Käfer vor Ehrfurcht zittern. Inmitten dieses Schauspiels der Natur verlor er allmählich die Bodenhaftung, bis ihn das Wasser mit sich riss und in einen Teil der talwärts schießenden Strömung verwandelte. 


Er war eingeschlossen von den Wassermassen. Es war wie eine riesige Wasserrutsche, die sich gebildet hatte und bis ganz runter ins Tal reichte; von Turbulenz nicht zu übertreffen. Er sauste an Felskanten vorbei, streifte die ersten Bäume, bis er schließlich luftsuchend bemerkte, wie sich die Geschwindigkeit etwas verlangsamte. Den Kopf nur knapp über dem Wasser haltend erkannte er das Ende seiner Abfahrt direkt vor sich: eine Wasseransammlung, ein Teich in einer sich immer weiter füllenden Senke.  


Sein Körper schmerzte, somit war er noch fähig, etwas zu fühlen. Es war wie ein Wunder, wie ein Erwachen innerhalb neuer Verwebungen des Schicksals. Der Käfer konnte das Ufer erreichen. Trotz seines schwachen und leeren Körpers wurde er von einer neuen Kraft angetrieben – der Hoffnung. Er schaute sich um, waldig-buschiges Terrain, das er nicht direkt erkannte. In dieser Gegend schien er noch nie gewesen zu sein. Es schüttete weiterhin aus der prallen Wolkendecke, als er in der nahen Ferne ein schwaches Licht erkennen konnte – es musste eine Laterne sein. 


Ächzend und voller Qual kroch er den matschigen Waldboden entlang, bis er am Zaun eines kleinen Hofes ankam. Es dauerte etwas, bis er es genauer zuordnen konnte, aber er musste sich in einem Nachbardorf befinden. Er lag vor dem Tor eines der Häuser, bei denen er letztes Jahr erst bei der Errichtung geholfen hatte. Durch Hoffnung und Adrenalin angetrieben schaffte er es zu der hölzernen Eingangstür. Das schüchterne Klopfen wurde fast vollständig von den prasselnden Umgebungsgeräuschen absorbiert, dennoch vernahm er Bewegung im Inneren und verlor das Bewusstsein. 


Sonnenaufgang 


Langsam öffnete er seine Augen und sah die dicken Holzbalken der Decke über sich. Seine Erinnerungen kehrten nach und nach zurück, während der Duft von erwärmtem Teig und Kaffee seiner Nase schmeichelte. Die Familie hatte ihn aufgepäppelt und so gut versorgt, dass er die Lebendigkeit in sich spüren konnte und sich langsam aufsetzte. Am Tisch saßen die Bewohner und aßen gemeinsam das duftende Frühstück. Dem Käfer schlich ein Lächeln in das Gesicht, während er das Vergangene noch nicht wirklich fassen konnte. Er war am Leben.  


Seine Familie hatte sich bestimmt schon unendliche Sorgen gemacht und wäre seit Tagen auf der Suche nach ihm gewesen. Er wollte schnellstmöglich zurück zu ihnen und sie in den Arm nehmen, ihnen sagen, dass es ihm gut ginge und er sie über alles liebe. Er bedankte sich aus vollem Herzen bei seinen Rettern und bekam ein üppiges Proviant-Paket mit auf seinen Fußmarsch. Er war noch schwach, aber es war glücklicherweise nicht sehr weit bis in sein Heimatdorf. Als er sich den Weg schließlich zutraute, verabschiedete er sich von der Familie und startete heimwärts.  


Er fühlte sich wie neugeboren, die Geräusche und Gerüche der Umgebung streichelten seine Sinne. Die Verarbeitung des Geschehenen würde wohl erst noch vor ihm liegen, dennoch fühlte er eine tiefe Dankbarkeit, die von einem vibrierenden Gefühl der Demut begleitet wurde. Mit Liebe im Herzen, inmitten dieses strahlend grünen Waldes, nahm er einen tiefen Atemzug. 


Während er von Glückseligkeit trunken den Weg entlanglief, voller Freude am Leben und gleichzeitiger Ungläubigkeit, dass er überhaupt noch lebendig war, nahm er sich eine Sache fest vor. Er wollte nie wieder die so schönen und wichtigen Momente seines Lebens vergeuden. Er wollte nie wieder gefangen sein in Routinen und festen Abläufen – ohne Blick für die alltäglichen kleinen Wunder. Die Zeit, die ihm jetzt in diesem Leben noch bleiben sollte, die ihm zusätzlich geschenkt wurde, wollte er für seine Kinder nutzen, um ein fürsorglicher Vater zu sein. Seine Frau sollte die ihm innewohnende Liebe spüren, sodass sie jeden Abend mit einem Lächeln einschlafen konnte. Er wollte mit seinen Liebsten neue Dinge erleben und eine allgemeine Offenheit in sich tragen für alles, was sich ergeben könnte. Seinen Dienst an der Gesellschaft, seinem Dorf und seine Arbeit wollte er auch weiterhin so gewissenhaft wie bisher ausführen, aber gedrosselter und auf eine Weise, die nicht in Selbstzerstörung endete. Er nahm sich vor, niemals den Wert des unfassbaren Geschenks zu vergessen, der sich beim intrinsischen Blick auf das Leben offenbart, und jeden Tag, bevor er schlafen geht, wollte er daran denken, wie dankbar er doch für die zahlreichen Momente ist, die er erleben durfte. 


Und die Schönheit des Sonnenuntergangs trug der Käfer nun für immer in sich, er musste nur friedvoll daran denken. 


Schön, dass du da bist.



 
 
 

1 Kommentar

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Unknown member
23. Okt.
Mit 5 von 5 Sternen bewertet.

Lieber Ben,


eine wirklich tolle und berührende Geschichte – mit viel Tiefe und einer schönen Botschaft.


Mir geht’s oft ähnlich: Man erkennt leider viel zu häufig erst, was im Leben wirklich wichtig ist, wenn man in schwierigen oder bedrohlichen Situationen steckt. Umso schöner, dass deine Geschichte daran erinnert, wieder mehr im Hier und Jetzt zu leben und den Blick auf das Wesentliche zu richten – auf die Menschen, die einen umgeben, und auf die kleinen, schönen Momente im Alltag.


Danke für diese wertvolle Erinnerung!

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